THTR 300 Die THTR-Rundbriefe
Studien zum THTR uvm. THTR-Pannenliste
Die HTR-Forschung Der THTR-Störfall im 'Spiegel'

Funkelnde Augen

Dieser Artikel stammt aus "Der Spiegel" 24. Woche 1986 - Seiten 28, 29 und 30

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Der Hammer Reaktortyp galt als zukunftsträchtig

- bis zum Störfall Anfang Mai. Die Betreiber vertuschten die Panne, die NRW-Sozialdemokraten haben, neben Kalkar, einen weiteren Problemmeiler.

Für den diensthabenden Techniker im Herzstück des Hammer Hochtemperaturreaktors (THTR) ging die Schicht am 4. Mai ruhig an. Der Meiler lief nicht mal mit halber Kraft.

Kurz nach 15 Uhr an diesem Maisonntag bekam der Mann im Leitstand eine Order. Er sollte 41 ,,Absorberelemente", mit Bor gefüllte Graphitkugeln, die dem Moderieren der atomaren Kettenreaktion dienen, über ein Rohr in die sogenannte Beschickungsanlage manövrieren - ein normaler Vorgang, bis auf eine Besonderheit.

Die Automatik kann nur exakt 60 Kugeln zufüttern, nicht weniger. Warum es diesmal lediglich 41 Kugeln sein sollten, war bis Ende letzter Woche ungeklärt. Jedenfalls erforderte die ungerade Zahl vom "Leitstandfahrer", wie der diensthabende Techniker im THTR Jargon heißt, besondere Vorkehrungen. Er mußte die Anlage auf Handbetrieb schalten. Das ist nur in Notfällen erlaubt und muß dann von einem Fachingenieur erledigt werden.

Denn der manuelle Betrieb ist kompliziert. Um eine Kugel zu plazieren, sind mehr als zwanzig Vorschriften genau zu beachten. Jeder Steuergriff muß sitzen, wenn die Kugel zum Reaktorkern gelangen soll, der mit dem Edelgas Helium gekühlt wird. Eines der eingeschleusten Absorberelemente (Durchmesser: sechs Zentimeter) blieb auf halbem Wege im Rohrsystem stecken. ,,Kugel nicht quittiert", meldete der Computer.

Der Leitstandfahrer stellte auf Automatik zurück und versuchte, die blockierende Kugel mit hohem Gasdruck wegzublasen. Was er zunächst nicht bemerkte: Kontaminiertes Helium war in die Schleuse eingeströmt und dann, durch ein irrtümlich geöffnetes Ventil, in den Kamin nach draußen entwichen.

Der Kontrollschreiber informierte:

"Aktivitätskonzentration Aerosole im Kamin hoch." Alarmhupen sprangen an, der Computer setzte mehr als zwanzig Störmeldungen ab. Die Männer im Reaktor, der Schichtleiter war in Rufweite des Technikers, hielten das offenbar nicht für gravierend. Zwanzig, dreißig Absorberkugeln schoß der Techniker, der sich sechs Stunden an dem Gerät versuchte, hinterher, um das verstopfte Rohr wieder frei zu kriegen. Er wechselte mehrmals zwischen manuellem und automatischem Betrieb - alles ohne Erfolg.

Der Druck wurde durch das Auf- und Zufahren der Schleusen so groß, daß alle nach geschobenen Kugeln zertrümmert wurden. Um 21.40 Uhr, Schichtende, legte der Mann die Arbeit nieder. Kollegen, so zeigt es das Schichtbuch, setzten das Kugelspiel fort. Aber nun war der Arm, der die runden Elemente transportierte, nicht mehr zu bewegen. In der Nacht wurde die Anlage abgeschaltet.

Was Anfang Mai im Reaktorgebäude von Hamm-Uentrop ablief, erinnert an Charlie Chaplins Slapstick-Szenen in ,,Modern Times": Ein Mann kämpft mit den Tücken der Technik und verliert. Aber was bei Chaplin ausgetüftelte Gags waren, war in Hamm eine Kette von Pannen, wie sie sich kein Ingenieur hatte ausdenken können.

Mehr als 100 Tonnen Papier sind in 15 Jahren für die Genehmigung des THTR beschriftet worden - mit Betriebsanleitungen, TÜV-Unterlagen und Fertigungsplänen. Ein Störfall wie der vom 4. Mai kommt darin nicht vor.

Was da aus dem Kamin kam, schätzungsweise 90 Millionen Becquerel, war nur ein radioaktives Wölkchen - kein Vergleich zu Tschernobyl. Was den Störfall zum Skandal machte, war der Versuch des Betriebes, alles zu vertuschen.

Als die Reaktorpanne vorige Woche Stück für Stück bekannt wurde und der Nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Reimut Jochimsen das Kernkraftwerk erst einmal stillegte, war ein bevorzugtes Argument westdeutscher Atompolitiker entwertet: daß die heimischen Meiler die sichersten der Welt seien. Der Störfall traf ausgerechnet eine urdeutsche Entwicklung, den sogenannten Kugelhaufen-Reaktor, der Kernkrafttechnikern wie Politikern als zukunftsträchtig galt* (siehe weiter unten "Kasten Seite 29"). Zumal die in Nordrhein-Westfalen regierenden Sozialdemokraten hatten auf diesen Reaktortyp gesetzt. Die Vorliebe gründete in der Hoffnung, die Hammer Atomfabrik könne eines Tages Prozeßwärme für die Kohlevergasung liefern - ein Essential für das Kohle- und Industrieland Nordrhein-Westfalen.

Führende Sozialdemokraten erinnern sich denn auch, daß der frühere Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Adolf Schmidt, ,,immer funkelnde Augen bekommen" habe, "wenn vom THTR die Rede war".

NRW-Wirtschaftsminister Jochimsen bezeichnete die Reaktor-Entwicklung im Vorwort zu einem Werksbuch jüngst als ,,Meilenstein". Und noch in der vergangenen Woche erklärte Regierungschef Johannes Rau, der Kanzlerkandidat der SPD, er halte den Hochtemperaturreaktor nach wie vor für die ,,sicherste Reaktorlinie" , davon sei er ,,überzeugt". Der Umweltschutzpropagandist Jo Leinen, heute SPD-Umweltminister des Saarlandes, nannte den Lieblingsmeiler der Düsseldorfer Genossen schon vor Jahren ,,den Staatsreaktor der nordrhein-westfälischen Landesregierung". In der SPD-Bundestagsfraktion kamen letzte Woche Befürchtungen auf, Rau und seine Freunde würden ohne Not dazu beitragen, die ohnehin nicht klare Position der SPD zum Ausstieg aus der Kernenergie noch weiter zu verwischen.

Im Ausstiegsbeschluß des Bundesvorstandes vom 26. Mai heißt es: ,,Der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung wird schrittweise verringert." Das bedeutet, daß im Bau befindliche Atommeiler nur dann ans Netz gehen, wenn ältere Kernkraftwerke mit gleich großer oder größerer Kapazität abgeschaltet werden. Dem stimmte Rau zu. Seine Landtagsfraktion in Düsseldorf aber ließ er lediglich die unverbindliche Floskel beschließen: ,,Deshalb ist sie (die Kernenergie) nur für eine Übergangszeit zu verantworten." In der NRW-Energie-Kommission erklärte Landes Wirtschaftsminister Jochimsen die Differenz so: ,,Es ist ein Unterschied, ob man in Bonn in der Opposition sitzt oder ob man verantwortlich Politik für ein Land macht."

Die Düsseldorfer SPD sieht sich nach dem Störfall von Hamm in einer doppelt vertrackten Lage. Nach dem Schnellen Brüter in Kalkar ist nun auch der THTR zum Problemfall geworden. ,,Wir sollten uns", sagte ein Kabinettsmitglied' ,,nicht auch noch hier festsetzen."

Umweltexperte Volker Hauff meinte, der abgeschaltete Reaktor könne allenfalls dann wieder ans Netz, wenn alle Sicherheitsfragen gründlich geprüft worden seien und ,,eine breite öffentliche Diskussion stattgefunden hat" Präsidiumsmitglied Herta Däubler-Gmelin erklärte: ,,Wie wir den Fall Hamm behandeln, ist ein Test für die Glaubwürdigkeit der Partei."

Der jüngste nukleare Unfall wäre womöglich von der Tschernobyl-Wolke völlig überdeckt worden, hätte nicht ein THTR-Mitarbeiter einen anonymen Hinweis gegeben. Der Unbekannte, wahrscheinlich ein leitender Mitarbeiter, informiert seit Monaten gezielt über Gefahren in der Anlage.

Offenbar kam ein Wink auch bei den Mitarbeitern des alternativen Darmstädter Öko-Institutes an. Dessen Experten stellten Anfang Mai bei Messungen in der Nähe des Reaktors fest, daß drei Viertel der Strahlung - insgesamt 35000 Becquerel pro Quadratmeter - aus dem THTR selbst, nur der Rest aus Tschernobyl-Winden stammten.

Als Minister Jochimsen am Mittag des 7. Mai bei den Betreibern nachfragen ließ, wiegelten die ab. Er bekam zu hören: ,,Unsinn, da ist nichts dran."

Die Antwort war falsch. Denn die Verantwortlichen hatten bereits am Morgen bei eigenen Messungen herausgefunden, daß tatsächlich ein Teil der Radioaktivität hausgemacht war. Die Informationspolitik des Unternehmens nahm fast sowjetische Züge an, es wurde gemauert und vertuscht. Dreist teilte die Betreibergesellschaft am 12. Mai allen Düsseldorfer Landtagsabgeordneten per Eilpost mit, daß an den Gerüchten über Probleme beim THTR nichts dran sei - die ,,entbehrten" jeglicher ,,Grundlage": Der THTR ,,arbeitet ordnungsgemäß".

Zu diesem Zeitpunkt war in Hamm schon eine Menge los. Die Trümmerstücke der Kugeln wurden abgesaugt, die defekte Beschickungsanlage repariert. Der Reaktor wurde hergerichtet wie ein Potemkinsches Dorf.

Als Mitte Mai eine Gruppe von FDP Landtagsabgeordneten zur Besichtigung kam, wurde den Politikern nicht etwa ein Unfallbericht, sondern ein Werbefilm vorgesetzt, der, mit der Stimme der Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff, die Vorzüge des Kugelhaufenreaktors pries. Die Bielefelder Zeitung ,,Neue Westfälische" über die Visite: ,,Strahlend hinein - sauber wieder heraus."

Das Düsseldorfer Wirtschaftsministerium ging derweil schon den ersten Hinweisen auf radioaktive Emissionen nach. Die Falschmeldungen des Betreibers blieben zwar nicht, wie zunächst angenommen, in der Bürokratie stecken, wurden aber anfänglich zu lasch geprüft. Erst als das Öko-Institut die Öffentlichkeit informierte, wurde eine Regierungskommission nach Hamm geschickt, und Jochimsen erklärte im Fernsehen, es handele sich um einen ,,unglaublichen Vorgang der Vertuschung" - was den Chef der Vereinigten Elektrizitätswerke, Klaus Knizia, veranlaßte, juristische Schritte anzudrohen. Der Eklat entzweite Genehmigungsbehörde und Betreiber. Und die Düsseldorfer Sozialdemokraten mußten schließlich erkennen, daß auch ihr THTR ein stinknormaler, mithin anfälliger Atommeiler ist.

Vielleicht nicht mal das. Ende voriger Woche kursierte unter Düsseldorfer Sozialdemokraten ein Papier der Kraftwerk-Union (KWU), einer Siemens Tochterfirma. Dem Hochtemperaturreaktor, heißt es darin, seien besonders hohe Sicherheitseigenschaften zuerkannt worden. Die allerdings, so die KWU-Manager, kamen bei dem großen Hammer Meiler ,,nicht in der erwarteten Weise zum Tragen". Und: Eine Verbesserung der Sicherheit sei ,,nicht zu erreichen".


"Umweltfreundlich in Ballungszentren"

Hoffnungen und Fehlschläge beim Hochtemperaturreaktor

Zitternd vor hoffnungsvoller Erwartung verfolgen Fernsehzuschauer allwöchentlich, wie die schwarz bezifferten Plastikkugeln aus der gläsernen Trommel durch einen Förderkanal in die sieben Röhren plumpsen.

So ähnlich, nur mit fast kilometerlangen Förderstrecken nach Art einer Rohrpost und insgesamt 675 000 etwa tennisballgroßen Kugeln aus Graphit, muß man sich das Zuführungs- und Entladungssystem des 300 Megawatt-Thorium-Hochtemperaturreaktors (THTR 300) in Hamm-Uentrop vorstellen. In einem der mit Helium gefüllten Zuleitungsrohre zum Reaktorkern kam es zu einer Art Verkehrsstau - auslösender Faktor für den Störfall.

Graphitkugeln anstelle der sonst in Atommeilern verwendeten stahlummantelten Uran-Brennstäbe, das war die Kernidee für den vor drei Jahrzehnten von dem deutschen Physiker und Heisenberg-Schüler Rudolf Schulten konzipierten Hochtemperaturreaktor. Die Idee versprach, gegenüber den sonst allseits verwendeten Leichtwasserreaktoren, eine ganze Reihe von wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Vorteilen:

Während herkömmliche Reaktoren regelmäßig zum Austausch der abgebrannten Brennelemente abgeschaltet werden müssen, kann der Hochtemperaturreaktor kontinuierlich betrieben werden; der in den Graphitkugeln gefangene atomare Brennstoff (hoch-angereichertes Uran und/oder Thorium) befindet sich in einem ständigen Kreislauf durch den Reaktor, abgebrannte Brennelemente werden beständig durch unverbrauchte ersetzt (siehe Graphik).

Die Abfuhr der durch die atomare Kettenreaktion erzeugten Hitze geschieht nicht mit Wasser, sondern durch das Edelgas Helium, das fast bis auf 1000 Grad aufgeheizt wird und seine Wärme dann über einen sekundären Wasser-Dampf-Kreislauf an die Turbine weitergibt - mit weit höherem Wirkungsgrad als in herkömmlichen Atomkraftwerken.

Bei einem Ausfall des wärmeabführenden Helium-Gasstroms tritt theoretisch keine Überhitzung des Reaktorkerns ein, sondern die Reaktorleistung geht selbsttätig auf etwa ein Fünfhundertstel der Nennleistung zurück; ein Schmelzen der Brennelemente, so die Betreiber, sei deshalb beim THTR kaum möglich.

1987 ging in der Kernforschungsanlage Jülich ein erster Minireaktor (15 MW) nach dem Kugelhaufenprinzip ans Netz. Er lief mehrere Jahre zufriedenstellend, bis es 1978 zu einem unvorhergesehenen Störfall kam: 25 Tonnen Wasser brachen in den Versuchsreaktor ein, ein erster Hinweis darauf, daß auch dieser Reaktortyp nicht pannensicher war.

1,5 Pfennig pro Kilowattstunde sollte der Atomstrom aus dem Hochtemperaturreaktor kosten, errechnete sein Erfinder Schulten Ende der sechziger Jahre - weit weniger als Strom aus Kohle und etwa ebensoviel wie Atomstrom aus Leichtwasserreaktoren. Aber der THTR sollte, wiederum aufgrund seines andersgearteten technischen Prinzips den gängigen Atommeilern in zweifacher Hinsicht überlegen sein:

Das im Reaktor auf so hohe Temperaturen gebrachte Heliumgas würde sich, anders als das Kühlmittel Wasser, nicht nur zur Stromerzeugung, sondern auch als sogenannte Prozeßwärme nutzen lassen - etwa zur Kohleverflüssigung oder für andere energieaufwendige Prozesse in der chemischen Industrie.

Verhältnismäßig kleine Kugelhaufenreaktoren sollten in Ballungszentren nicht nur elektrischen Strom, sondern zugleich Fernwärme liefern.

Als ,,besonders sicher und umweltfreundlich" priesen seine Verfechter den Kugelhaufen-Reaktor; seine Vorzüge, hieß es 1972 in einer ,,Projektinformation" der Uentrop-Betreiber, ,,könnte man bei der Wahl künftiger Reaktorstandorte in dicht bevölkerten Räumen nutzen".

Der in Jülich errichtete Versuchsreaktor schien auch zunächst die vermuteten Sicherheitsvorteile zu bestätigen. Bei dem Versuch jedoch, einen gleichartigen Reaktor mit der 20fachen Leistung als großtechnische Anlage zu errichten, häuften sich Probleme und Kosten. Statt der veranschlagten fünf Jahre Bauzeit wurden es nahezu 15, statt der ursprünglich geschätzten 690 Millionen Mark verschlang der Reaktor am Ende mehr als vier Milliarden Mark Baukosten.

Bislang hat der Reaktor 21 mal stillgestanden, mal fiel ein Notstromaggregat aus, mal ein Abluftventilator, oder defekte Meßfühler meldeten ,,zu hohe Temperaturen" in der Reaktorhalle.

Technische Probleme gab es vor allem auch bei der Beschickung des Reaktors. Die Graphitkugeln - unter denen sich zur Moderation des Meiler-Brandes stets auch LeerkugeIn und etliche borgefüllte ,,Absorberelemente" befinden - hatten sich beim Prototyp als zählebig erwiesen. Im Großbetrieb aber, bei dem sich im sechs Meter hohen, fünfeinhalb Meter weiten Reaktorbehälter 675 000 Kugeln drängen, wurde gerade das der Schwachpunkt: Entgegen allen Prognosen gehen die Kugeln haufenweise entzwei - seit September 1985 gab es 800mal Bruch.

(Anmerkung: Bis zur Stilllegung waren es 8000 Brennelement-Kugeln die zu Bruch gingen!)

Mein ausdrücklicher Dank gilt dem "Spiegel" für die Kopien der Artikel zum Thema THTR.

 


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