Die KiKK-Studie
Deutsches Kinderkrebsregister
Leitung: Dr. Peter Kaatsch
Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken
(KiKK-Studie)
Abschlussbericht
Zusammenfassung
Teil 1 (Fall-Kontroll-Studie ohne Befragung)
Teil 2 (Fall-Kontroll-Studie mit Befragung)
Peter Kaatsch, Claudia Spix, Sven Schmiedel, Renate Schulze-Rath, Andreas Mergenthaler, Maria Blettner
Gefördert vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit über das Bundesamt für Strahlenschutz (Vorhaben StSch 4334)
Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik (IMBEI)
an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Direktorin: Prof. Dr. Maria Blettner
Projektleitung: Dr. P. Kaatsch
Projektkoordination: Dr. habil. C. Spix
Gesamtberatung: Prof. Dr. M. Blettner
Mainz, Oktober 2007
Das diesem Bericht zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unter dem Förderkennzeichen StSch 4334 gefördert.
Mitarbeiter
Projektleitung Dr. rer.physiol. Peter Kaatsch Projektkoordination Dr. rer.nat. et med.habil. Claudia Spix
Wissenschaftliche Beratung Prof. Dr. rer.nat. Maria Blettner Prof. Dr. med. Jörg Michaelis Dr. rer.physiol. Joachim Schüz
Wissenschaftliche Projektmitarbeiter (zeitweise) Dipl. Soz. Andreas Mergenthaler Jun.Prof. Dr. oec.troph. Eva Münster Dipl. Stat. Sven Schmiedel Dr. med. Renate Schulze-Rath
Weitere Projektmitarbeiter (zeitweise) Frau Irene Jung Frau Melanie Kaiser Frau Sabine Kleinefeld Frau Claudia Trübenbach
Studentische Hilfskräfte Frau Jutta Albrecht Herr Carsten Hornbach Herr Steffen Weinand
Interviewer Frau J. Albrecht Frau A. Becht Frau B. Grossmann Herr B. Haupt Herr B. Krey Herr L. Krille Herr F. Müller Frau P. Quetsch Herr Dr. R. Schmunk Frau R. Tekie Frau C. Varlik
Zusammenfassung
Fragestellung
Am Deutschen Kinderkrebsregister (DKKR) wurde beginnend im Jahr 2003 eine epidemiologische Fall-Kontrollstudie durchgeführt, in der untersucht werden sollte, ob Krebs bei Kindern unter 5 Jahren in der unmittelbaren Umgebung von Kernkraftwerken häufiger ist als in größerer Entfernung. Diese Studie wurde motiviert durch eine Reihe von explorativen Auswertungen früherer Studien des DKKR, in denen mit anderen Methoden die Krebsinzidenz bei Kindern in der Nähe von deutschen Kernkraftwerken untersucht wurde. Dem folgten explorative Analysen Dritter von Daten des DKKR. Diese Daten waren vom BfS für eigene Untersuchungen, vornehmlich zur umweltbezogenen Gesundheitsberichtserstattung, genutzt und publiziert worden.
Die neue Studie besteht aus zwei Teilen: Teil 1 ist eine Fall-Kontrollstudie ohne Kontaktierung von Fällen und Kontrollen, für Teil 2 wurde bei einer Untergruppe eine Befragung durchgeführt. Das Design der Studie wurde in Abstimmung mit einem durch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) zusammengestellten Expertengremium festgelegt. Die Hypothese der Studie (im Sinne der statistischen Nullhypothese) lautet: „Es besteht kein Zusammenhang zwischen der Nähe der Wohnung zu einem Kernkraftwerk und dem Risiko, bis zum 5. Lebensjahr an Krebs zu erkranken. Es liegt kein negativer Abstandstrend des Erkrankungsrisikos vor.“
Methodik
Es wurde eine Fall-Kontrollstudie durchgeführt. In Teil 1 sind als Fälle alle zwischen 1980 und 2003 mit einer Krebserkrankung diagnostizierten Kinder einbezogen, die dem Deutschen Kinderkrebsregister gemeldet wurden, zum Zeitpunkt der Diagnose unter 5 Jahre alt waren und in vorab festgelegten Regionen um 16 deutsche Kernkraftwerke wohnten (1592 Fälle). Zu jedem Fall wurden aus der gleichen Region Kontrollen mit gleichem Geschlecht und gleichem Alter im Erkrankungsjahr zufällig ausgewählt (4735 Kontrollen). Für die Fälle wurde der individuelle Abstand der Wohnung am Tage der Diagnosestellung zum nächstgelegenen Kernkraftwerk ermittelt, für die Kontrollen zu einem analogen Stichtag.
Für den Studienteil 2 wurde eine Teilmenge der Fälle und Kontrollen aus Teil 1 zu möglichen Risikofaktoren, die eventuell als Confounder wirken könnten, und zu ihrer Wohnhistorie befragt. Dazu wurden die zwischen 1993 und 2003 diagnostizierten Fälle im Alter von unter 5 Jahren ausgewählt, die an einer Leukämie, einem Lymphom oder einem ZNS-Tumor (ZNS: zentrales Nervensystem) erkrankt waren und zum Zeitpunkt der Diagnose in der Studienregion wohnten. Als Kontrollen in Teil 2 wurden die diesen Fällen in Studienteil 1 zugeordneten Kontrollen herangezogen.
Ergebnisse
Datenmaterial
Die Abläufe zur Beschaffung der Adressen von Fällen und Kontrollen und deren Geokodierung ließen sich weitestgehend wie vorgesehen durchführen. Fehlende oder ungenaue Angaben hielten sich hierbei in engen Grenzen. Die Vorgabe von einer Genauigkeit der zu ermittelnden Wohnungsabstände zum nächstgelegenen Kernkraftwerk von mindestens 100 Metern wurde mit einer geschätzten durchschnittlichen Genauigkeit von rund 25 Metern erfüllt.
Bei der Kontrollrekrutierung ergab sich, dass sich Gemeinden in der Nähe von Kernkraftwerken bei der Bereitstellung von Kontrolladressen weniger kooperativ zeigten als weiter entfernt gelegene (84% gelieferte Kontrolladressen im Vergleich zu sonst 90%).
Die Teilnahmebereitschaft an der Befragung in Teil 2 lag bei den Fällen bei 78%, bei den Kontrollen bei 61%. Das für die Befragung angestrebte Verhältnis für Fälle und Kontrollen von 1:2 wurde erreicht.
Eine Validierung der Befragungsangaben durch einen Vergleich mit Kopien von medizinischen Unterlagen (Mutterpass, Kinderuntersuchungsheft, Impfausweis) wurde für eine Zufallsstichprobe von Teilnehmern an der Befragung durchgeführt. Es zeigte sich, dass die im Interview gemachten Angaben für Impfungen und geburtsrelevante Daten (Geburtsgewicht und -größe, Schwangerschaftswoche) mit den Unterlagen gut übereinstimmen.
Beim Vergleich von Teilnehmern und Nichtteilnehmern an der Befragung zeigte sich, dass Familien, bei denen der Befragungsstichtag (Diagnosezeitpunkt bei Fallkindern, KiKK-Studie Zusammenfassung
entsprechender Stichtag bei Kontrollkindern) schon länger zurücklag (1993-1995, das sind rund 10 Jahre vor dem Interview), etwas seltener teilnahmen. Den deutlichsten Einfluss auf die Teilnahmebereitschaft hatte der Abstand zum nächstgelegenen Kernkraftwerk: In der inneren 5km-Zone war die Teilnahmebereitschaft deutlich niedriger, bei Kontrollen (46% im Vergleich zu 62% außerhalb) noch ausgeprägter als bei Fällen (63% im Vergleich zu 79% außerhalb). Wir interpretieren das dahingehend, dass den Familien, die in unmittelbarer Umgebung eines Kernkraftwerks wohnen, dieser Umstand sehr wohl bewusst ist, und sie daher bei Befragungen eher zurückhaltend sind. Allen potenziellen Teilnehmern an der Befragung in Teil 2 wurde ein Kurzfragebogen zugeschickt. Es deutet sich an, dass Familien mit höherem Sozialstatus, speziell bei den Kontrollen, eher zur Teilnahme bereit sind. Dieses Phänomen ist aus anderen epidemiologischen und empirischen Studien (in Deutschland und international) bekannt.
Konfirmatorische Analyse
Die Haupthypothese für Teil 1, dass kein monoton fallender Zusammenhang zwischen Abstand der Wohnung zum nächstgelegenen Kernkraftwerk und Krankheitsrisiko existiert, wird zum einseitigen Niveau α=5% verworfen. Als Abstandsmaß wurde vorab 1/r definiert, wobei r der Abstand zwischen der Wohnadresse und dem nächstgelegenen Kernkraftwerk ist. Die Regressionsanalyse ergab einen Schätzer für den Regressionskoeffizienten von βˆ =1,18 (untere einseitige 95%Konfidenzgrenze=0,46, d.h. statistisch signifikant von Null verschieden). Die Auswertung der Nebenfragestellung, bei der der Abstand kategoriell betrachtet wird, zeigt für die 5km-Zonen um die Kernkraftwerke ebenfalls ein statistisch signifikantes Ergebnis (Odds Ratio (OR)=1,61, untere einseitige 95%-Konfidenzgrenze=1,26).
Bei den Diagnoseuntergruppen zeigen die Leukämien (593 Fälle, 1766 Kontrollen) einen statistisch signifikanten Schätzer für den Regressionskoeffizienten von βˆ =1,75 (untere einseitige 95%-Konfidenzgrenze=0,65). Der für die Untergruppe aller Leukämien beobachtete Effekt ist stärker als für alle malignen Erkrankungen insgesamt. Die untersuchten Subgruppen der Leukämien weisen jeweils ähnliche Werte auf. Dieser ist allerdings nur für die akuten lymphatischen Leukämien statistisch signifi
kant. Für die akute myeloische Leukämie ist die Anzahl hierfür zu gering (75 Fälle, 225 Kontrollen). In den weiteren a priori festgelegten diagnostischen Untergruppen (ZNS-Tumoren, embryonale Tumoren) wurden keine Hinweise auf eine Beziehung zum Abstand gefunden. Daraus kann gefolgert werden, dass der für alle malignen Erkrankungen beobachtete Effekt im Wesentlichen durch die Ergebnisse der relativ großen Untergruppe der Leukämien zustande kommt.
Es besteht kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Regressionskoeffizienten in a priori definierten Teilperioden (erste Hälfte der jeweiligen Reaktorlaufzeit im Vergleich zur zweiten Hälfte) (p=0,1265).
Die Untergruppe von Fällen und Kontrollen, die für Teil 2 der Studie angeschrieben wurde (471 Fälle, 1402 Kontrollen), weist keinen relevanten Unterschied gegenüber dem für die Gesamtgruppe von Teil 1 ermittelten Regressionsparameter auf (geschätzter Koeffizient um 11% kleiner als im Gesamtmodell). Allerdings weist die Gruppe der Personen, die sich dann am Interview beteiligt hat, gegenüber der Gesamtgruppe einen großen Unterschied auf.
Im Auswerteplan war ein statistisches Kriterium festgelegt worden, nach dem geprüft wurde, ob die Teilnehmer am telefonischen Interview (Teil 2) möglicherweise eine nicht repräsentative Selektion aus den Fällen mit entsprechender Diagnose von Teil 1 und den zugehörigen Kontrollen darstellten. In diesem Falle können die Ergebnisse von Teil 2 nicht zur Interpretation der Ergebnisse von Teil 1 herangezogen werden. Dieses Kriterium war erfüllt, d.h. die Daten der Befragung in Teil 2 der Studie können nicht herangezogen werden, um zu überprüfen, ob die Ergebnisse von Teil 1 durch potenzielle Confounder verzerrt sind. Der Grund liegt vor allem in der geringen Teilnahmebereitschaft in der inneren 5km-Zone.
Sensitivitätsanalysen und explorative Analysen
Es wurde eine Reihe von geplanten und sich aus der Datenlage ergebenden Sensitivitätsanalysen und explorativen Analysen durchgeführt. Insgesamt fand sich kein Hinweis auf eine relevante Beeinflussung der Ergebnisse. Tendenziell deuten die meisten Sensitivitätsanalysen eine leichte Überschätzung des berichteten Effekts an. Die geplante explorative Analyse der Form der Regressionskurve durch fraktionelle Polynome und ein Box-Tidwell-Modell ergab keinen Hinweis auf eine grundsätzlich andere Form der Regressionskurve als die im Auswerteplan vorgesehene.
Da aus den in der Nähe von Kernkraftwerken gelegenen Gemeinden die Bereitstellung von Kontrolladressen weniger vollständig erfolgte als bei weiter entfernt gelegenen, wurde zusätzlich zu den Vorgaben des Auswerteplans auch hierzu eine Sensitivitätsanalyse durchgeführt. Die mögliche Verzerrung durch dieses Problem bei der Kontrollrekrutierung ist gering.
Bei der Befragung in Studienteil 2 zur Wohnhistorie ergab sich, dass ein Teil der Kontroll-Familien zu keinem Zeitpunkt vor dem Stichtag unter der ursprünglich vom Einwohnermeldeamt angegebenen Adresse gewohnt hatte, sondern erst danach. Dies ist auf fehlerhaft gelieferte Kontrolladressen durch die Gemeinden zu erklären. Simulationsrechnungen sowie die erweiterte Auswertung von Unterlagen aus der Kontrollziehung und das Anschreiben einer Zufalls-Stichprobe aus den Gemeinden zeigten, dass das Ergebnis der Studie dadurch nur marginal beeinflusst wird.
Die Auslassung jeweils einer einzelnen Kernkraftwerksregion (jeweils für alle Malignome und die Leukämien) ergab keinen Hinweis darauf, dass das Ergebnis nur von einer einzelnen Region abhängig ist. In Zusammenhang mit der in Deutschland intensiv geführten Diskussion zur Erkrankungshäufung für Leukämien bei Kindern in der Nähe des Kernkraftwerkes Krümmel (aufgrund von 17 Erkrankungsfällen zwischen 1990 bis 2006 in zwei direkt benachbarten Gemeinden) ist festzuhalten, dass 8 dieser Fälle zur Studienpopulation in der inneren 5km-Zone gehören. Für die Leukämien wird das Studienergebnis von der Region um das Kernkraftwerk Krümmel am stärksten beeinflusst. Unter Weglassung dieser Fälle und der entsprechenden Kontrollen beträgt der Schätzer für den Regressionskoeffizienten in der Untergruppe der Leukämien βˆ =1,39 (untere einseitige 95%-Konfidenzgrenze=0,14).
Confounderanalysen
Die Ergebnisse von Teil 2 können zur Interpretation der Ergebnisse von Teil 1 nicht herangezogen werden, da vor allem die Teilnahmebereitschaft in Abhängigkeit von der Wohnungsnähe zum Kernkraftwerk zu einer Selektion geführt hat. Auf Wunsch des BfS und des beratenden Expertengremiums wurde dennoch eine multivariate KiKK-Studie Zusammenfassung Regressionsanalyse mit den erhobenen Variablen (Confounderanalyse) durchgeführt. Es wurde wie ursprünglich vorgesehen überprüft, ob die Berücksichtigung der potenziellen Confounder den Schätzer für den Regressionskoeffizienten des Abstandsmaßes verändert (Change-in-estimate Prinzip). Dies zu überprüfen war seinerzeit die Motivation für die Durchführung von Studienteil 2. Keine der Variablen führte zu einer Veränderung des Schätzers, die die vorab festgelegte Größenordnung (± 1 Standardabweichung) überschritt. Eine explorative Auswertung der Confounder, für die diese Studie aber nicht konzipiert war, ergab Zusammenhänge, die weitgehend die aus der Literatur bekannten Ergebnisse bestätigen.
Attributable Risiken
Für die Jahre 1980-2003 und die Zahl der in der betrachteten 5km-Zone beobachteten Fälle (n=77) ergibt sich für Deutschland ein attributables Risiko von 0,2% für das Wohnen innerhalb der 5km-Zone um eines der 16 Kernkraftwerke. Das heißt, 29 der 13.373 in Deutschland im Zeitraum 1980-2003 im Alter von unter 5 Jahren mit Krebs diagnostizierten Erkrankungsfälle, das sind 1,2 Fälle pro Jahr, wären unter den gemachten Modellannahmen dem Wohnen innerhalb der 5km-Zone um ein deutsches Kernkraftwerk zuzuschreiben. Auf die Leukämien bezogen, von denen 37 im Alter von unter 5 Jahren zwischen 1980 und 2003 in den inneren 5km-Zonen beobachtet wurden, errechnen wir ein Populations-attributables Risiko von 0,3%, das wären 20 der 5.893 Fälle unter 5 Jahren in Deutschland, die in den Jahren 1980-2003 diagnostiziert wurden, und damit 0,8 Fälle pro Jahr. Diese Schätzungen sind wegen der zugrunde liegenden kleinen Fallzahlen mit erheblicher Unsicherheit behaftet.
Diskussion
Studiendesign
Die KiKK-Studie ist eine Fall-Kontrollstudie bei unter 5jährigen und in den Jahren 1980-2003 an Krebs erkrankten Kindern, in der untersucht wurde, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Abstand der Wohnung zum nächstgelegenen Kernkraftwerk und dem Risiko gibt, an Krebs zu erkranken. Die Stärke dieser Studie ist darin zu sehen, dass sie in Ergänzung zu den bisherigen in Deutschland durchgeführten Kernkraftwerksstudien, die auf aggregierten Inzidenzraten in Abstandsregionen basierten, ein individuelles Abstandsmaß auf Basis des Wohnhausabstandes zum nächstgelegenen Kernkraftwerk anwendet.
Die in die Studie integrierte Befragung einer vorab festgelegten Gruppe der Eltern von Fall-und Kontrollkindern sollte dazu beitragen, mögliche Confounder zu berücksichtigen, um dies zur Bewertung des ermittelten Studienergebnisses heranziehen zu könnten. Leider war diese Auswertung wegen des Antwortverhaltens der Studienteilnehmer nicht möglich bzw. nicht bewertbar. Es sind aber auch aus der bisherigen Literatur kaum Risikofaktoren bekannt, die als entsprechend starke Confounder agieren könnten.
Strahlenepidemiologische Aspekte
Die vorliegende Studie betrachtet den Abstand zum jeweils nächstgelegenen Kernkraftwerk. Daten zu umweltbedingten Strahlenexpositionen wurden nicht verwendet, da diese nicht verfügbar und auch retrospektiv nicht erhebbar sind. Es wurde auch nicht berücksichtigt, dass sich Individuen nicht ständig am gleichen Ort aufhalten und über die Hintergrundstrahlung hinaus auch anderen Strahlenquellen ausgesetzt sind
(z.B. terrestrische Strahlung, medizinische Diagnostik, Flugreisen). Unterschiedliche topografische oder meteorologische Gegebenheiten (z.B. Niederschlag, Windrichtung) konnten ebenfalls nicht berücksichtigt werden.
Für jedes Individuum wurde der Abstand des Wohnhauses zum nächstgelegenen Kernkraftwerk zum Zeitpunkt der Diagnose (Kontrolle: Diagnosedatum des zugehörigen Falls) verwendet. Eine Berücksichtigung von Umzügen im Zeitraum von Konzeption bis Diagnosestellung erfordert eine Befragung der Familien und war damit für den größten Teil der in die Studie einbezogenen Familien nicht möglich.
Auf Basis eines vorher festgelegten Modells wurde ein Abstandsmaß gebildet, zu dem eine Regressions-Kurve geschätzt wurde. Das Abstandsmaß beruht auf theoretischen Ausbreitungsmodellen, das Regressionsmodell folgt dem üblichen linearen Modell für den Niedrigdosisbereich. Dieses Modell basiert allerdings auf Studien, die das Krebsrisiko von Erwachsenen in Abhängigkeit von ionisierender Strahlung bewerteten. Erwachsene erkranken überwiegend an soliden Tumoren, während bei Kindern systemische Erkrankungen relativ häufiger sind. Inwieweit sich Modelle zur Wirkung von Niedrigdosisstrahlung auf Leukämieneuerkrankungen bei Kindern im Vorschulalter übertragen lassen, ist bisher in der internationalen Literatur nicht geklärt.
Die derzeit international verwendeten Abschätzungen der Strahlenwirkung im Niedrigdosisbereich gehen von einer linearen Extrapolation nach unten ohne Schwellenwert aus, für Leukämien kommt auch ein quadratisches Modell in Frage. Andere Autoren gehen davon aus, dass diese Modelle im Dosisbereich von <0,01 Sv (Sievert) die Effekte erheblich überschätzen. Spezielle Aussagen für Kinder werden in den entsprechenden Berichten nicht gemacht, bzw. die entsprechende Datenlage wird als dafür nicht ausreichend beschrieben. Die Modelle geben beispielsweise ein Excess Relative Risk, das sich mit der Größe OR-1 aus diesem Bericht vergleichen ließe, von ca. 0,5 pro 1 Gy/Jahr an (ein Gray (Gy) entspricht hier einem Sievert). Als Grenzwert für die Belastung von Personen in der „Umgebung“ von kerntechnischen Anlagen in Deutschland gelten 0,3 mSV (milli Sievert) pro Jahr. Die tatsächlichen Belastungen liegen weit darunter. So wird für eine 50 Jahre alte Person, deren Wohnsitz sich in 5km Entfernung zum Kernkraftwerk befindet, eine kumulative Exposition gegenüber luftgetragenen Emissionen von 0,0000019 mSv (milli Sievert) (Obrigheim) bis 0,0003200 mSv (Gundremmingen) erwartet. Die jährliche natürliche Strahlenexposition in Deutschland beträgt etwa 1,4 mSv, die jährliche durchschnittliche Exposition durch medizinische Untersuchungen etwa 1,8 mSv. Demgegenüber ist die Exposition mit ionisierender Strahlung in der Nähe deutscher Kernkraftwerke um den Faktor 1.000 bis 100.000 niedriger. Vor diesem Hintergrund ist nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand das Ergebnis unserer Studie nicht strahlenbiologisch erklärbar.
Vergleich mit früheren deutschen Kernkraftwerksstudien
Vor der Durchführung der vorliegenden Studie wurden am Deutschen Kinderkrebsregister in Zusammenhang mit Kernkraftwerken zwei Studien mit Inzidenzvergleichen durchgeführt. Dabei wurde in einer ersten Studie („Studie 1“) die Inzidenz aller zwischen 1980 und 1990 diagnostizierten, unter 15 Jahre alten Erkrankungsfälle in der 15km-Zone um 20 deutsche Kernkraftwerke im Vergleich zu demographisch ähnlichen Vergleichsregionen betrachtet. Die Studie war durch auffällige Ergebnisse im 10Meilen-Umkreis um britische Kernkraftwerke (Sellafield, Windscale) motiviert worden und untersuchte als Hauptfragestellung alle Diagnosen im Alter von 0-14 Jahren in einer 15km-Zone. Dabei ergab sich kein erhöhtes Risiko (RR 0,97; 95%-KI [0,87;1,08]). Altersuntergruppen, Abstandsregionen und Diagnoseuntergruppen wurden in Form explorativer Analysen untersucht. Die zusätzlich explorativ gewonnenen Ergebnisse wurden in einer Anschlussstudie („Studie 2“) bei gleichem Design mit unabhängigen, in der Zeit fortgeschriebenen Daten aus den Jahren 1991-1995 überprüft. Die Hauptfragestellung (alle Diagnosen, Alter 0-14, 15km-Zone) blieb, das entsprechende Ergebnis war unauffällig (RR 1,05; 95%-KI [0,92;1,20]). Die explorativ signifikanten Ergebnisse aus der ersten Studie, insbesondere auch die Frage nach Leukämien unter 5 Jahren in der 5km-Zone, zeigten jetzt etwas kleinere Relative Risiken und waren nicht statistisch signifikant. Entsprechend wurde dies als Nicht-Bestätigung der explorativen Ergebnisse gewertet.
Die damaligen Studien und die aktuelle Studie überschneiden sich besonders im Nahbereich bezüglich der Fälle und der Studienregion. Gegenüber den früheren Studien schloss das BfS-Expertengremium für die aktuelle Studie die kerntechnischen Anlagen Kahl, Jülich, Hamm, Mühlheim-Kärlich und Karlsruhe aus. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Forschungsreaktoren oder Kernkraftwerke mit kurzer Betriebsdauer. Von den jetzt eingeschlossenen Fällen der inneren 5km-Zone im Alter von unter 5 Jahren waren in den Studien 1 und 2 etwa 70% bereits damals berücksichtigt, 80% der Fälle aus den Vorgängerstudien sind auch in der aktuellen Studie wieder berücksichtigt. Die Diskrepanz beruht neben dem Ausschluss einiger kerntechnischer Anlagen im Wesentlichen auf den zusätzlichen Beobachtungsjahren (1996-2003) und auf der geänderten Umkreis-Definition. Damals waren Gemeinden entsprechend der Lage ihrer Fläche jeweils insgesamt einer 5-, 10-oder 15km-Zone zugeordnet worden und es wurden keine individuellen Wohnhauskoordinaten verwendet.
Vergleichbar zum Ergebnis der damaligen Hauptfragestellung (Alter bis 15 Jahre, 15km-Zone) kam man bei Betrachtung aller malignen Erkrankungen bei unter 5Jährigen in der inneren 5km-Zone aus den ersten Studien nicht zu dem Schluss, dass ein erhöhtes Risiko bestand, denn die Effektschätzer waren nicht statistisch signifikant (zweiseitig getestet). Mit dem Ansatz der aktuellen Studie wurde eine statistisch signifikante Erhöhung des Risikos gefunden (einseitig getestet).
Das damals am meisten diskutierte, aus der explorativen Datenanalyse der damaligen Studie 1 entstandene Ergebnis (relativ deutliche Risikoerhöhung bei den akuten Leukämien im Alter unter 5 Jahren in der 5km-Zone) wird von der aktuellen Studie auf Basis des erweiterten Zeitraums 1980-2003 in ähnlicher Größenordnung bestätigt. Für die Leukämien zeigt sich der Einfluss der damaligen Ergebnisse auf die aktuellen Ergebnisse sehr deutlich. Der in Studie 1 für den Zeitraum von 1980-1990 ermittelte Risikoschätzer ist nahezu identisch mit dem für den gleichen Zeitraum in der aktuellen Studie ermittelten. Das Odds Ratio für den auf die beiden früheren Studien folgenden Zeitraum (1996-2003) ist niedriger als für die vorherigen Zeitperioden.
Dies war in Studie 1 ein exploratives Ergebnis und hatte damit einen niedrigeren Stellenwert als die konfirmatorischen Analysen innerhalb der gleichen Studie. In der Studie, mit der dies überprüft werden sollte (Studie 2), wurde das signifikante Ergebnis nicht bestätigt, jedoch war das relative Risiko erhöht. In der aktuellen Studie wurde dieselbe Frage als Nebenfragestellung nochmals untersucht, diesmal fand sich ein statistisch signifikantes Ergebnis.
Schlussfolgerung
Unsere Studie hat bestätigt, dass in Deutschland ein Zusammenhang zwischen der Nähe der Wohnung zum nächstgelegenen Kernkraftwerk zum Zeitpunkt der Diagnose und dem Risiko, vor dem 5. Geburtstag an Krebs (bzw. Leukämie) zu erkranken, beobachtet wird. Diese Studie kann keine Aussage darüber machen, durch welche biologischen Risikofaktoren diese Beziehung zu erklären ist. Die Exposition gegenüber ionisierender Strahlung wurde weder gemessen noch modelliert. Obwohl frühere Ergebnisse mit der aktuellen Studie reproduziert werden konnten, kann aufgrund des aktuellen strahlenbiologischen und -epidemiologischen Wissens die von deutschen Kernkraftwerken im Normalbetrieb emittierte ionisierende Strahlung grundsätzlich nicht als Ursache interpretiert werden. Ob Confounder, Selektion oder Zufall bei dem beobachteten Abstandstrend eine Rolle spielen, kann mit dieser Studie nicht abschließend geklärt werden.
(Freisetzung von atomarer Strahlung seit Anfang der 1940er Jahre: siehe INES - Die internationale Bewertungsskala und die Liste der weltweiten Atom-Störfälle)
- Die Karte der nuklearen Welt -
zurück zu den
Spendenaufruf- Der THTR-Rundbrief wird von der 'BI Umweltschutz Hamm e. V.' herausgegeben und finanziert sich aus Spenden. - Der THTR-Rundbrief ist inzwischen zu einem vielbeachteten Informationsmedium geworden. Durch den Ausbau des Internetauftrittes und durch den Druck zusätzlicher Infoblätter entstehen jedoch laufend Kosten. - Der THTR-Rundbrief recherchiert und berichtet ausführlich. Damit wir das tun können, sind wir auf Spenden angewiesen. Wir freuen uns über jede Spende! Spendenkonto:BI Umweltschutz Hamm |